Stand 09.07.2018

Polyneuropathie


Polyneuropathie: Erkrankung des peripheren Nervensystems – Häufigkeit – Alter – neurologisches Beschwerdebild – seelische Folgen – Ursachen (Diabetes, Alkoholmissbrauch, erblich etc.) – Behandlung – vorbeugende Maßnahmen – u.a.m.

Lästig, quälend oder gar lähmend im wahrsten Sinne des Wortes, von weiteren Folgen ganz zu schweigen: das ist ein neurologisches Krankheitsbild namens Polyneuropathie.

Polyneuropathien sind Erkrankungen des so genannten peripheren Nervensystems. Unter dem Nervensystem versteht man das Gehirn, das Rückenmark und alle Nerven, die den Körper durchziehen. Das Zentrale Nervensystem sind Gehirn und Rückenmark, das periphere die vielen Nervenbahnen, die als „Signal-Überträger“ die Organ-Funktionen erst ermöglichen.

Obwohl in der Allgemeinheit fast unbekannt, ja mitunter unbemerkt und damit doppelt riskant bis gefährlich (s. u.), trifft es generell „nur“ 3% der Bevölkerung, bei den über 65-Jährigen aber fast jeden Zehnten. Wenn Kribbel-Missempfindungen und brennende Fußsohlen am Einschlafen hindern, denken die meisten an Durchblutungsstörungen mit der eigenen Schlussfolgerung: „leider altersbedingt und therapeutisch kaum beeinflussbar“. Deshalb wird auch nicht der Arzt aufgesucht, wenn sich die Beschwerden einigermaßen in Grenzen halten.

Viel Konkretes erfährt man darüber auch nicht in den Medien. Dabei fand ein ähnliches und mit den Polyneuropathien häufig verbundenes Krankheitsbild in letzter Zeit eher Interesse. Gemeint ist das Restless Legs-Syndrom (RLS), also die unruhigen Beine (siehe diese).


Das Beschwerdebild

Wie äußern sich die Polyneuropathien (man nimmt die Mehrzahl, weil es zahlreiche Ursachen und Formen gibt - s. später)?

Das Wichtigste gleich vorweg: Nicht wenige Polyneuropathien verursachen keine Beschwerden oder sonstigen Auffälligkeiten, führen aber ggf. trotzdem zu ernsten Komplikationen. Deshalb sollte man bei bestimmten Grund-Erkrankungen mit erhöhtem Polyneuropathie-Risiko wie Zuckerkrankheit, Alkoholismus u. a. vorsorglich auch eine Polyneuropathie ausschließen, selbst wenn keine typischen Beschwerden geklagt werden.

Die Symptome äußern sich meist an den Füßen, bisweilen auch an den Händen. Es beginnt in der Regel schleichend mit einem Kribbeln, später „Ameisen-Laufen“ und schließlich Brennen, oft in „socken- und handschuh-förmiger“ Verteilung, wie es die Experten nennen. Dazu ggf. Gefühle des Eingeschnürtseins oder eines unangenehmen Drucks. Zuletzt das Empfinden einer Schwellung oder gar einschießender Schmerzen an den Füßen, vielleicht sogar Muskelkrämpfe.

Interessanterweise klagen viele Patienten über Schmerzen durch Reize, die normalerweise nicht als schmerzhaft empfunden werden. Das verwundert nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Angehörigen oder Pflegekräfte. Schreitet die Erkrankung weiter fort (mitunter auch gleich von Anfang an), kann es zu einem Unsicherheitsgefühl beim Gehen kommen, vor allem im Dunkeln. Außerdem zu einer Schwäche einzelner Muskeln, d. h. auch zu bestimmten Funktionsstörungen, je nach befallenem Muskel (beispielsweise so genannte Fußheber-Schwäche und damit erschwerter Fersen-Gang). Mitunter findet sich auch ein immer ausgeprägterer Schwund dieser Muskeln, zunächst der kleinen Fuß- und Hand-Muskeln, im weiteren Verlauf auch Unterschenkel und Unterarme. Zuletzt trophische (Ernährungs-)Störungen an Haut und Nägeln sowie der Schweiß-Sekretion.

Polyneuropathie-Beschwerden sind typischerweise in Ruhe stärker als während körperlicher Belastung. Dies gilt vor allem für die Beine und ist deshalb für den Arzt ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber der vielleicht zuvor vermuteten Durchblutungsstörung bis hin zum Verschluss eines Blutgefäßes.


Was führt zu einer Polyneuropathie?

Wie schon erwähnt, können es ganz unterschiedliche Ursachen sein, was die Diagnose und vor allem Differentialdiagnose (was es sonst noch sein könnte) besonders schwer macht. Deshalb empfiehlt sich im Verdachtsfall eine fachärztliche Untersuchung durch den Neurologen. Dieser muss nämlich eine ganze Reihe von spezifischen Krankheiten ausschließen, bei denen nicht nur die erwähnten Beschwerden, sondern auch andere Folgekrankheiten bedacht werden müssen. Dazu gehören beispielsweise (in Fachausdrücken, Einzelheiten siehe die medizinische Literatur): die Borreliose, die Porphyrie, eine Vaskulitis, die Vergiftung durch Lösungsmittel u. ä.

Leider liegt die Zahl der ungeklärten Fälle zwischen jedem 5. oder gar 2. Patient, wobei jedoch die häufigsten Ursachen in Mitteleuropa Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) und chronischer Alkoholmissbrauch sind.

Die fachärztliche Untersuchung ist zwar technisch nicht aufwendig, aber recht kompliziert anmutend. Das beginnt bei bestimmten Muskel- und Skelett-Auffälligkeiten an Unterschenkeln, Füßen, Händen, konkret: Gelenke, Hautfarbe, Beinbehaarung u. a., schließt die Prüfung der Wärmeleitfähigkeit, der Eigenreflexe, der Lage- und Vibrations-Empfindung, der Sensibilität aller Qualitäten mit ein und muss noch lange nicht mit technischen Verfahren abschließen wie die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit und die Elektromyographie (Muskelmessung), mitunter auch Biopsien (Gewebe-Entnahme) von Nerven, Haut, Muskeln und Schleimhaut.

Behandlung – Aufklärung – Vorsichtsmaßnahmen

Die Behandlung ist Aufgabe von Neurologe und Hausarzt. Einzelheiten dazu, insbesondere was medikamentöse Möglichkeiten (und leider auch Grenzen) anbelangt, siehe der ärztliche Rat. Sehr wichtig aber ist die Aufklärung, und zwar nicht nur über Ursachen, sondern auch Vorsichtsmaßnahmen und lindernde Eingriffe. Dies vor allem für Patienten im höheren Lebensalter. Im Einzelnen:

Ist beispielsweise das Temperatur-Empfinden vermindert, droht das erhöhte Risiko für Verbrennungen und Erfrierungen. Auch reduziertes Schmerz-Empfinden kann zu folgenreichen Verletzungen führen. Vom eingeschränkten Lage-Empfinden mit unsicherem Gang und erhöhter Sturzgefahr, besonders bei Dunkelheit, war schon die Rede. Das Gleiche gilt für eine Reihe vegetativer Störungen bei komplizierteren Polyneuropathie-Formen.

Bei den allgemeinen Maßnahmen sollte man sich vor Augen führen, dass 60 bis 70% der Ulzera (Geschwüre) am Fuß im Rahmen eines Diabetes mellitus vor allem auf die damit zusammenhängende Polyneuropathie zurückgehen. Das kann bis zur Osteomyelitis (Knochenmarksentzündung) führen und im Extremfall sogar eine Amputation erforderlich machen. Deshalb sollten Patienten mit einer Polyneuropathie besonders sorgfältig auf ihre Füße achten, vor allem täglich(!) auf kleine, scheinbar unbedeutende Risse, Wunden, Blasen oder Verletzungen. Ist dies wegen mangelnder Beweglichkeit oder Sehstörungen nicht möglich, muss man die professionelle Fußpflege nutzen.

Auch zu enge oder schlecht sitzende Schuhe sind unbedingt zu vermeiden (und neue am besten abends anprobieren und kaufen, weil um diese Tageszeit die Füße in der Regel dicker sind als am Morgen). Neue Schuhe müssen langsam eingelaufen und vor dem Anziehen auf kleine Fremdkörper untersucht werden.

Barfuss sollten die Patienten wegen möglicher Verletzungsgefahr nicht mehr gehen. Selbst Wärmflaschen oder Heizkissen bei kalten Füßen sind mit großer Vorsicht, am besten aber gar nicht einzusetzen, um Verbrennungen zu vermeiden (lieber Bettsocken). Selbst Zehen-Nägel müssen nach einem warmen Fußbad unter großer Vorsicht geschnitten und nie mit scharfen oder spitzen Gegenständen gereinigt werden (Rubbeln ist untersagt).

Und schließlich bekommen manche Betroffene nach und nach gnadenlos zu spüren, dass sich durch Wirbelsäulen-, Hüft-, Knie- und Sprung-Gelenks-Veränderungen (meist Arthrose) das gesamte Bewegungsmuster verschieben kann, mit neuem Schwerpunkt - und damit vermehrter Belastung und entsprechenden Bewegungs-Einschränkungen, wenn nicht gar Schmerz-Folgen.

„Polyneuropathien“ wird mancher zu Beginn dieser Lektüre gesagt haben, was ist denn das schon wieder. Recht hat er, wenn er die im Grunde wunderbare Konstruktion des menschlichen Körpers meint, sofern alles reibungslos funktioniert. Doch wenn nicht, und ab einem bestimmten Alter muss man dann halt mit vielerlei Einbußen rechnen, also wenn nicht, ist das rechtzeitige Erkennen, Vorbeugen und ärztlich geleitete Behandeln unerlässlich. Auch und gerade bei einer im Alter so häufigen, wenn auch erst einmal schwer durchschaubaren neurologischen Erkrankung wie den Polyneuropathien.