Hysterie – kaum ein Begriff auf dem Gebiet der Psychiatrie und Medizinischen Psychologie löst so viele unterschiedliche Ansichten, kontroverse Diskussionen und auch falsche Vorstellungen aus wie dieser. Doch Menschen mit einer hysterischen Persönlichkeitsstruktur, wie immer man sie früher nannte und heute nennen soll, wirken zwar auf den ersten Blick weniger leidend, mehr aufsehen-erregend, doch wohl fühlen sie sich nicht, im Gegenteil.
Denn es sind nicht so sehr die spektakulären Krankheitszeichen, die sie quälen. Es sind mehr die mittel- bis langfristig drohenden psychosozialen Folgen in Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, am Arbeitsplatz usw., die auf Dauer ein solches Leben belasten, beeinträchtigen, ja zerstören können.
Was Hysterie heißt („hysterisch“), wissen die meisten, allerdings nur in seiner negativ wertenden Bedeutung. In Wirklichkeit handelt es sich um ein konkretes und durchaus belastendes Leidensbild. Es hat jedoch in den letzten Jahren einen Bedeutungswandel, ja sogar Begriffswandel erfahren. So soll der Begriff hysterisch wegen seiner inzwischen fachlich wie populär-medizinisch eher abwertender Bedeutung ersetzt werden durch „histrionische Persönlichkeitsstörung“ (vom lat.: histrio = Schauspieler, Gaukler).
Klassifikatorisch zählt man es jetzt zu den dissoziativen Störungen (Konversionsstörungen, bei denen seelische Belastungen zu ungewöhnlichen körperlichen Folgen führen wie Pseudo-Krampfanfälle, seelische Blindheit oder Lähmung u. a.).
Dabei gibt es noch immer keine einheitliche Definition, doch wurde eine Hysterie früher wie folgt definiert, was auch heute noch eine gewisse Gültigkeit hat:
Hysterische Persönlichkeitsstruktur
Zur hysterischen Persönlichkeitsstruktur gehören z. B. narzisstische (übersteigertes Bedürfnis nach Bewunderung), egozentrische (ichbezogene) und geltungsbedürftige Einstellungen mit überzogener Selbst-Darstellung und einem infantilen (kindlichen) Bedürfnis nach ständiger Anerkennung. Vor allem sind Hysteriker kaum in der Lage, sexuelle Wünsche so zu integrieren, dass sie für beide Seiten halbwegs befriedigend ausfallen. Deshalb sind hysterische Menschen oftmals auch unfähig zu einer reifen Sexualbeziehung und Befriedigung.
Außerdem neigen sie in ungewöhnlicher Form dazu, ihre zwischenmenschlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Konflikte zu verdrängen, ja völlig vom Bewusstsein abzuspalten. Ein Mensch mit hysterischer Persönlichkeitsstruktur sieht sich also aufgrund seiner Wesensart kaum in der Lage, die wahren Hintergründe seiner psychosozialen Konflikte zu erkennen und vor allem anzuerkennen. Und damit sind einer Behandlung, insbesondere psychotherapeutischen Bemühungen oft enge Grenzen gesetzt.
Das Leidensbild der Hysterie
Das Leidensbild der Hysterie (histrionischen Persönlichkeitsstörung) ist weit und ggf. spektakulär:
Hauptmerkmal einer hysterischen oder jetzt histrionischen Persönlichkeitsstörung ist eine tiefgreifende und übertriebene Emotionalität (Gemütseinstellung) und ein übermäßiges Streben nach Aufmerksamkeit. Die Betroffenen fühlen sich rasch nicht gebührend beachtet oder unwohl, wenn sie nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. In Stichworten:
Psychosoziale Folgen der Hysterie
So nimmt es nicht Wunder, dass sich aus dieser Wesensart zahlreiche Probleme im Alltag von Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, Arbeitsplatz u. a. ergeben. Am meisten beklagt wird die mangelnde emotionale (gemütsmäßige) Tiefe im zwischenmenschlichen und vor allem sexuellen Bereich. Negativ vermerkt wird auch die Neigung zu Extrem-Positionen, z. B. entweder „Opfer“ oder „Prinzessin“ bzw. „Macho“.
Auf der einen Seite wird gerne versucht, durch emotionale Manipulationen oder Verführungen die anderen zu kontrollieren, auf der anderen fühlen sie sich „schrecklich abhängig“, was auch deutlich zur Schau und „in Rechnung“ gestellt wird.
Gleichgeschlechtliche Freunde, Bekannte oder Arbeitskollegen gehen deshalb rasch auf Distanz, da sie sich in ihrer eigenen Position provoziert, wenn nicht gar bedroht sehen (z. B. berufliche Stellung, eigene Partnerschaft). Außerdem ermüdet diese ständig vorgetragene Erwartungshaltung nach überzogener Aufmerksamkeit und vor allem die Degradierung des Umfelds zur Bühne bzw. zum staunenden Publikum sehr rasch.
Wenn die Betroffenen aber keinen Erfolg mehr haben, reagieren sie schnell gekränkt, deprimiert, wenn nicht gar reizbar bis aggressiv. Auch das belastet („Umfeld zum ständigen Applaus verdammt“).
Andererseits sind Menschen mit einer hysterischen Persönlichkeitsstruktur ständig auf der Suche nach Neuigkeiten und Aufregung, auf jeden Fall nach Stimulation. Alltägliches wird rasch langweilig. Zwischenmenschlich sind sie meist intolerant, auf jeden Fall aber schnell frustriert, wenn sie sich nicht sofort bestätigt fühlen. Ihr Handeln ist gleichsam auf unmittelbare Befriedigung programmiert. Neue Aufgaben oder Projekte können sie mit großer Begeisterung beginnen, doch kann das Interesse schnell erlahmen. Länger bestehende Freundschaften werden oft vernachlässigt, um Platz zu schaffen für neue Beziehungen.
Auch sind hysterische Reaktionen im Allgemeinen bzw. histrionische Persönlichkeitsstörungen im Speziellen nicht selten kombiniert mit depressiven Verstimmungen, Angststörungen, Somatisierungsstörungen (früher als funktionelle oder Befindlichkeitsstörungen bezeichnet), vor allem aber Konversionsstörungen. Das sind die seelisch bedingten „Schwächeanfälle“ oder Lähmungen, Empfindungsstörungen, Stimmlähmungen, Blindheit, Taubheit u. a.
Kurzfassung: mittelpunktlos, haltlos, ohne innere Orientierung, von äußeren Einflüssen bestimmbar, ohne Kontinuität, stets neue Anfänge suchend (Beruf, zwischenmenschlich).
Können sich nicht festlegen, sind durch wunschhaftes Denken bestimmt, lernen nicht, sondern probieren immer neu aus.
Ausgesprochenes Geltungsbedürfnis. Lebensführung voller Sprünge, planlos, chaotisch. Tagträumereien. Neigung zu Rivalität mit anderen. Infantile (kindliche) Note in Gebaren, Haltung, Kleidung und Lebensführung. Krankhafte Selbstbezogenheit und Bewunderungsgier.
Positive Seiten: eindrucksvolle Selbst- und Fremddarstellung (Schauspieler), unterhaltsam, kurzweilig (aber anstrengend).