Wir leben im Zeitalter der Angst, heißt es. Ob wir allerdings mehr ertragen müssen, als die Generationen vor uns, sei dahingestellt. Jedenfalls droht die Angst neben den Depressionen und der Demenz jene psychische Störung zu werden, die die Menschen derzeit am meisten bewegt - gleichgültig, ob es sich um ein Schlagwort, einen Modetrend oder um reale Hintergründe handelt. Doch als Erstes gilt es zu erkennen:
Angst ist nicht gleich Angst. Nicht jede Stimmungsschwankung ist eine krankhafte Depression. Nicht jede Befürchtung ist eine krankhafte Angst.
Was ist krankhafte Angst?
Angst ist ein Teil unseres Gefühlslebens und deshalb sinnvoll. Als Warn- und Alarmsignal - ähnlich wie der Schmerz - hilft sie auf Bedrohungen von außen und Störungen von innen aufmerksam zu machen. Nur wenn man die Gefahr kennt, kann man sie auch bewältigen. Damit ist die Angst ein lebensnotwendiger Anpassungs- und Lernvorgang. Im Grunde ist das Erste, was die Natur zum Überleben verlangt, sich fürchten zu lernen. Das ist die Grundlage des Selbsterhaltungstriebes. So ist Angst erst einmal etwas Positives.
Definition der Angst: So groß die Bedeutung der Angst inzwischen auch geworden ist, es gibt bis heute keine allseits akzeptierte Definition. Immerhin lässt sich eines festhalten:
Angst ist ein unangenehmer emotionaler (Gemüts-)Zustand mit zumeist körperlichen oder psychosomatischen Begleiterscheinungen, hervorgegangen aus einem Gefühl der Bedrohung, das entweder konkret oder nicht objektivierbar ist.
Wie aber unterscheiden sich angemessene, notwendige Ängste bzw. Befürchtungen von unnötiger Ängstlichkeit oder gar krankhaften Angststörungen?
Keine Unklarheiten ergeben sich dann, wenn die krankhafte Angst eindeutig begründbar ist, z. B. durch
Epidemiologische Aspekte
“Normale” Angst, früher treffender als Furcht vor konkreten Situationen oder Personen bezeichnet, kennt jeder. Krankhafte Ängste dagegen haben in den letzten Jahren offenbar zugenommen (auch wenn man zugeben muss, dass sie früher zwar erlitten, zu einem guten Teil aber einfach nicht als solche erkannt wurden).
In Deutschland soll rund jeder Zehnte unter schwerwiegenden Angststörungen leiden. Zwar gibt es - je nach Untersuchung - auch unterschiedliche Zahlen. Doch dies ist ein Wert, der auch von anderen westlichen Nationen in etwa erreicht wird.
Zwei Drittel sind Frauen. Nicht nur unter den alten, auch unter den jungen Menschen, vor allem in den so genannten “besten Jahren” geht die Angst offenbar verstärkt und vermehrt um. Verheiratete stellen sich scheinbar am günstigsten, Verwitwete, Geschiedene und getrennt Lebende schlechter. Die neuen Bundesländer scheinen ausgeprägter betroffen. Die Vermutung, dass Ausländer wegen ihrer oftmals schwierigen Lage gehäuft Ängsten ausgesetzt sind, lässt sich nicht bestätigen.
Warum Angst so schwer erkannt wird
Und gleich vorab eine nachdenklich stimmende Erkenntnis zur Therapie: Eine gezielte Behandlung bekommen - selbst bei weitester Auslegung dieses Begriffes - nur vier von zehn Betroffenen. Dies gilt vor allem für die psychotherapeutischen, insbesondere verhaltenstherapeutischen Möglichkeiten. D. h. in der Mehrzahl der Fälle schreitet die Angst fort, beeinträchtigt nach und nach alle Lebensbereiche und wird dadurch schließlich auch zu einem ernsten Kostenfaktor.
Das Problem liegt aber nicht nur im „System“, es hat auch persönliche Hintergründe. Zum einen ist es nicht einfach, selbst krankhafte Angst zu erkennen, ähnlich wie bei Depressionen, so sonderbar es sich anhört. Das liegt nicht zuletzt am körperlichen Beschwerde-Schwerpunkt, während seelische und psychosoziale Angst-Symptome eher selten sind bzw. weniger auffallen. Ein klassisches Beispiel ist die überfallartige Angst-Attacke, die Panikstörung. Sie landet fast immer (und auch immer wieder) auf der internistischen Notfall-Station (ohne krankhaften Befund und damit für den Patienten besonders verunsichernd).
Aber selbst wenn man inzwischen mehr weiß, scheuen sich viele trotzdem eine Angststörung zu akzeptieren. Warum?
Angst haben heißt Schwäche eingestehen, und die passt nicht in diese Zeit und Gesellschaft. Deshalb sollte man eines wissen: Die krankhafte Angst hat nichts mit der Wesensart „Ängstlichkeit“ zu tun, sie ist ein biologisch verankertes Leiden, ausgelöst durch Veränderungen im Gehirn-Stoffwechsel (Fachbegriff: Neurotransmitter oder Botenstoffen, z. B. Serotonin). Deshalb sollte man sich nicht scheuen, zur Abklärung seinen Arzt aufzusuchen und dann auch dessen Therapie-Vorschläge zu akzeptieren. Angststörungen sind zwar ein u. U. folgenschweres Leiden, aber erfolgreich behandelbar, vor allem in der Kombination Selbsthilfe - Verhaltenstherapie - Pharmakotherapie (z. B. mit bestimmten antidepressiven Psychopharmaka).
Beschwerdebild der Angststörungen
Viele seelische Störungen sind charakterisiert durch ein vages, diffuses, oft auch wanderndes Beschwerdebild (“je diffuser, desto psychogener”). Das macht auch die rasche und exakte Diagnose einer Angststörung so schwierig. Deshalb gilt: Die meisten der nachfolgenden Symptom-Hinweise können, aber müssen nicht mit einem Angstzustand zusammenhängen. Was vermag also auf eine Angststörung hinzuweisen, sofern andere Ursachen ausgeschlossen werden konnten (einschließlich einige Unterscheidungsmerkmale zwischen Angst und Depression, wie es die Fachärzte auseinanderzuhalten versuchen):
Seelische und psychosoziale Symptome: Innerlich unruhig, nervös, gespannt, fahrig. – Missgestimmt, reizbar, aggressiv (“reizbare Schwäche”). – Leicht irritierbar, schreckhaft, ruhelos und getrieben. – Interesselos, zunehmende Merk- und Konzentrationsstörungen (allerdings nicht die ausgeprägte Vergesslichkeit oder gar “Leere im Kopf” wie bei der Depression). – Resigniert, freudlos, bedrückt und verzweifelt (jedoch nicht die “klassische Herabgestimmtheit” im seelischen und körperlichen Bereich wie bei einer Depression). Gemütslabil bis weinerlich. – Unfähig zu entspannen, nie ausgeruht, regenerationsunfähig (“komme nicht mehr auf die Füße”; aber nicht die bleierne Müdigkeit, Mattigkeit oder “abgrundtiefe Erschöpfung” einer Depression). – Gemütsmäßiges Erkalten im zwischenmenschlichen Bereich (jedoch nicht “wie unter einer gefühlsmäßigen Glasglocke ohne die Möglichkeit, daraus zu entfliehen” wie bei einer Depression). – Das Empfinden, etwas unbestimmbar Drohendem hilflos ausgeliefert zu sein, wachsende Sorgenbereitschaft, Neigung zu furchtsamem Vorausahnen (jedoch keine unerschütterlich pessimistisch-negative Sichtweise (“schwarze Brille”) mit unkorrigierbarer Hilfs- und Hoffnungslosigkeit (“alles verloren”) wie bei der Depression). – Zunehmendes Vermeidungsverhalten mit Rückzug und Isolationsgefahr (jedoch zugänglicher als bei schweren Depressionen). – Gefühl der Unwirklichkeit, des Weit-entfernt-Seins, der Beengung, der Ohnmachtnähe. Allgemeines Schwächegefühl (kein “Elendigkeitsgefühl” wie bei der Depression).
Das sind die wichtigsten seelischen und psychosozialen Angst-Symptome. Sie werden aber nur selten so beeinträchtigend empfunden wie die körperlichen Krankheitszeichen einer Angststörung. Über sie wird am meisten geklagt. Zum Beispiel:
Körperliche Symptome: Mundtrockenheit. Hautblässe. Pupillenerweiterung, ggf. Lidspaltenerweiterung (angstvoll aufgerissene Augen). Zähneknirschen im Schlaf. Ggf. Ohrgeräusche. Gepresste oder zitternde Stimme. Klopfen in den Gefäßen (Schläfe, Hals). Dumpf- diffuser Kopfdruck. – Schwindelneigung (oder konkreter: ein “So-als-ob-Schwindel, eine Art schwindelige Benommenheit”). – Herzsensationen jeglicher Art: Herzdruck, Herzklopfen, Herzjagen, Herzstolpern, Herzstechen usw. – Atembeschwerden: Atemenge, “Atemsperre”, Lufthunger, “Atemkorsett”, Hecheln. – Würgegefühle im Hals (“Kloß”, bis “wie zugeschnürt”). – Gänsehaut, Kälteschauer, ständige Schweißneigung oder gelegentliche (meist unmotivierte) Schweißausbrüche, auch örtlich begrenzt (Handfläche, Rücken, Achseln, Gesicht). – Appetitlosigkeit (aber meist ohne den deutlichen Gewichtsabfall wie bei vielen Depressionen). Gelegentlich aber auch Heißhunger, vor allem auf Kohlenhydrate (Süßigkeiten, Teigwaren). Magen-Darm-Störungen: Übelkeit, Sodbrennen, Völlegefühl, Blähungen, diffuser Magendruck, Druck und Schmerzen vor bzw. nach den Mahlzeiten, Magen- und Darmkrämpfe, Durchfallneigung, seltener Obstipation (Unterscheidungsmerkmale: Bei der Depression irritiert häufig ein Druck im Oberbauch, bei der Angststörung klagen die Patienten über das “Gefühl, als senke sich der Magen” oder als hätte man “Schmetterlinge im Bauch”). – Nachlassen von sexuellem Verlangen und Potenz (allerdings nicht so ausgeprägt wie bei der Depression). – Störungen der Monatsblutung. Harndrang, vermehrtes und häufiges Wasserlassen. – Ein- und Durchschlafstörungen, frühes Erwachen sowie Schreckträume (wenn auch weniger ausgeprägt wie bei einer vor allem endogenen, also biologisch begründbaren Depression, bei der insbesondere das Früherwachen mit “Berg auf der Brust und Panik vor dem neuen Tag” quält). – Zittern der Hände, ggf. regelrechte Zitteranfälle (“zittrig und wackelig”). – Vermehrte, meist unregelmäßig verteilte Muskelspannung, aber auch Muskelschmerzen, Muskelsteife, Muskelzuckungen (z. B. Lider, Mund, sonstige Gesichtsmuskeln, Nacken- und Schulterbereich, Finger, Beinmuskeln usw.). Vor allem aber eine verminderte Muskelspannung bis hin zu “weichen Knien”, “weichen Beinen”, “wie auf Watte oder Kork”. Damit Kollapsneigung oder gar die erwähnte “Ohnmachtnähe”. – Diffuse Missempfindungen wie Kribbeln, Brennen, Reißen am Stamm, an Armen/Beinen und im Gesicht usw.
Ähnlich wie bei der Depression lässt sich auch bei Angstzuständen zumindest eine Verdachtsdiagnose mit letztlich nur wenigen, aber relativ charakteristischen Angst-Symptomen stellen, die alle zuerst einmal als rein körperlich erscheinen.
Das sind: weiche Knie oder Beine, schwindelig oder wie benommen, wacklig oder schwankend, zittrig sowie allgemeines Schwächegefühl.
Zur Klassifikation der Angststörungen
Angst ist nicht gleich Angst, hieß es einleitend. Häufig wird sie nicht einmal als solche rechtzeitig erkannt, äußert sie sich doch in einer Vielzahl von Symptomen - und das noch meist im überwiegend körperlichen (oder konkreter: psychosomatischen) Bereich. Trotzdem muss man das Krankheitsbild “Angststörungen“ einteilen. Dazu empfiehlt sich folgendes Schema in Stichworten:
Doch zur Entlastung (als Therapie kann man dies ja bei normalen Angstzuständen nicht bezeichnen) sollte man vor allem auf eigene Initiative und entsprechende Bewältigungsmethoden zurückgreifen: regelmäßige Aussprache (Hippokrates vor rund 2.500 Jahren: Für was ich Worte habe, darüber bin ich schon hinweg) und vor allem körperliche Aktivität (führt Angst regelrecht ab). Oder kurz gefasst:
Reden-reden-reden und gehen-gehen-gehen. Vor allem aber eine Milderung oder Korrektur der ja bekannten Ursachen anstreben (im Gegensatz zur „neurotischen Angst“ mit ihren unbewussten Ursachen). Ferner physikalische Maßnahmen (Bürstenmassagen, Wechselduschen). Und vor allem Entspannungsverfahren (autogenes Training, Yoga usw.) lernen, bevor man sie nötig hat.
Die Therapie der körperlich begründbaren Angststörungen ist die Behandlung der zugrunde liegenden Krankheit. Dazu Beratung, psychotherapeutische Stützung, Korrekturen in der Lebensführung, ggf. angstlösende Medikamente.
Die Therapie besteht in der Behandlung der zugrunde liegenden Krankheit. Das sind auf pharmakotherapeutischem Gebiet vor allem Neuroleptika und Antidepressiva. Ferner psycho- und soziotherapeutische sowie körperlich kräftigende Maßnahmen (Bürstenmassagen, Wechselduschen, Gymnastik, Massage u. a.). Auch hier viel körperliche Aktivität
Die primären Angststörungen: Neben Angststörungen aufgrund körperlicher oder seelischer Ursachen gibt es die zahlenmäßig wahrscheinlich häufigeren primären Angststörungen, früher als Angstneurosen und (zahlreiche) Phobien bezeichnet.
Heute unterscheidet man nur noch das Generalisierte Angstsyndrom und die Panikattacken sowie bei den Phobien die Agoraphobie, Sozialphobie und spezifische Phobien.
Einzelheiten dazu siehe die speziellen Kapitel in den verschiedenen Serien